Gerade lese ich …

Mein Vorhaben für 2023 – eindlich einmal einen Überblick bekommen, was ich alles gelesen habe. Mal schauen, ob es mir gelingen wird ….

März 2023

Es gibt Verlage, die mich einfach nie enttäuschen – der Limmat Verlag gehört definitiv dazu. Nicht nur wegen der ausgewählten belletristischen Sparte, sondern vor allem auch wegen seiner herausragenden Sachbücher, die nicht nur perfekt rechercheirt, sondern in der Regel auch bebildert und sehr hochwertig realisiert sind. Thematisch nimmt sich der Zürcher Verlag Themen an, die uns als Gesellschaft keinesfalls hintenrunter fallen sollten. Die 15 Portraits von Überlebenden des NS-Regimes in der Schweiz heute gehören ebenfalls dazu. Behutsam und empahtisch, jedoch ohne die professionelle Distanz zu verlieren stellt Simone Müller Menschen vor, die mich in Gedanken noch lange begleiten werden.

Puh, das ist ein harter Text, der so leicht daherzukommen scheint. Die Sprache der Protagonistin ist niedlich, eingeschränkt, und diese Naivität bricht einem das Herz. Es geht um eine junge Frau in einem Bordell und ihre langsame aber stetige “Bewusstwerdung”. Ein absolut bemerkenswertes Romandebüt!

Kein Reiseführer im klassischen Sinn, aber ein Buch, das grosse Lust auf eine Reise nach Slowenien macht. Klar: ich lasse mich von Sprache verführen – und da der Autor als einer der wichtigsten Literaten Sloweniens gilt, gelingt es ihm mühelos, mich zu begeistern. Die Literaturtage Zofingen begrüssen jeweils das Gastland der Frankfurter Buchmesse – in diesem Jahr Slowenien Ich freue mich sehr, über ein Land zu lernen, über das ich – zugegebenermassen – bislang kaum etwas wusste.

Graphic Novels entdecke ich erst neuerdings für mich. Was für eine grossartige Kunstform, Geschichten zu erzählen! Samira Kentrić schafft es, die komplizierte politische Situation des Balkans vor, während und nach der Kriege anhand ihrer eigenen Familiengeschichte zu erzählen. Die Zeichnungen sind in Sepiatönen gehalten und von einer sehr starken Bildsprache. “Balkanalien” hat mir einige Wissenslücken geschlossen – sozusagen en passant.

Helmut Luthers “Nostalgiereise gen Süden” ist kein Reiseführer im klassischen Sinn. Er erkundet das kleine und extrem vielseitige Land Slowenien vor allem über seine berühmten (und bei uns oft unbekannten) Persönlichkeiten – wer weiss zum Beispiel schon, dass die Briefmarke in Slowenien erfunden wurde …? Die Bebilderung ist etwas eigenwillig, ich hätte mir mehr Aufnahmen von Gebäuden und Landschaft gewünscht (statt z.B. Museumsdirektoren), aber da hilft wohl nur eins: hinfahren.

Bei mir vergeht kaum ein Tag, an dem ich nicht zumindest ein Gedicht lese. Bei einer so wunderschön gestalteten Ausgabe wie der zweisprachigen Gedichtsammlung “Die Schnittmenge der Schönheit” von Milan Dekleva beschert einem schon das in-der-Hand-Halten einen Moment der Musse, was nicht nur an der zurückhaltendne Typo liegt, sondern auch den Birnholzschnitten von Christian Thannhäuser zu verdanken ist. Eine schöne Auswahl aus dem lyrischen Schaffen der letzten 30 Jahre des slowenischen Dichters in einem wie gesagt wunderschön gestalteten Band!

Februar 2023

“Meisterwerk” ist ein Roman, der mich umhaut. Erzählt wird eine unmögliche Liebesgeschichte – beide verheiratet, er viel älter, sie seine Lektorin. Die eigentlich Dissonanz ist aber politisch: er ist ein Freiheitskämpfer, sie ist Informantion für den nationalen Sicherheitsdienst. Nicht glücklcih mit der Rolle, aber sie ist es numal. Ana Schnabl schaut tief in die Psyche ihrer Protagonisten, der Roman ist für mich ein echer Page-Turner!

Andrej Blatniks “Platz der Befreiung” ist eine Liebesgeschichte , bei der auch viel mit Worten umeinander geworben wird. Vor dem Hintergrund des Ende des kalten Krieges und der daraus reslutierenden grossen Änderungen entfaltet sich die Geschichte wie ein rasanter Kinofilm: Kurze Kapitel, sehr filmisch erzählt.

Was für eine wilde Geschichte! Adam Andrusiers autobiographischer Roman hat mich schon auf den ersten Seiten kräftig zum Lachen gebracht. Es ist eine jüdische Familiengeschichte, eine tragische Liebesgeschichte (der Eltern), ein Roman übers Erwachsenwerden, über religiöse Traditionen, über besessene Sammler und über die Reise eines jungen Mannes zu sich selbst.

Tabea Steiner schafft es in ihrem neuen Roman über eine Freikirche zu schreiben, ohne in die Falle der Wertung zu tappen. Ihre Figuren lassen uns nachvollziehen, welchen Halt und welche Kraft sie aus der Zugehörigkeit zu der Glaubensgemeinschaft ziehen, die natürlich auch extrem einengend sein kann. Schwarz-weiss gibt es in diesem Roman nicht. Ein kluger Roman, den ich nicht aus der Hand legen konnte.

Für eine kommende (private) Lesung recherchiere ich für die Auftraggeberin skurrille Geschichten, so bin ich auf “Herr Palomar” von Italo Calvino gestossen, genau genommen ein Roman in Episoden, dessen ungewöhnlicher Haupdarstellers sich immer tiefer in seine Beobachtungen und Analysen verstrickt. Ein sehr besonderes Lesevergnügen, das durchaus auch einen fordernden Aspekt hat!

Ich liebe Romane, die einem die Pionierarbeit von Menschen nahebringen, von deren Einsatz wir immens profitieren, ihn aber unterdessan als selbstverständlich hinnehmen. Sanne Jellings hat sich das Leben der norddeutschen Frauenrechtlerin Helene Lange vorgeknüpft, die sich der Aufgabe verschrieben hat, Mädchen den Zugang zu Bildung und Studium zu ermöglichen. Beim Lesen ploppt an einigen Stellen die Frage auf “ja und wo stehen wir da heute …?” – z.B. in Bezug auf die wirtschaftliche Sicherheit einer verheirateten Frau mit Kindern. Ein unterhaltsamer und informativer Roman zum “Wegschlätzen”.

Ein herrlich verschachtelter Coming-of-Age-Roman. Die junge Rita findet sich nicht zurecht in ihrer Welt und schreibt Geschichten, um das Chaos ihrer innerer Stimmen zu bändigen – wobei die Grenzen zwischen Innen und Aussen total verschwimmen, da Rita in eine Psychiatrie abgeschoben wurde. Man fragt sich natürlich, ob der Protagonist ihrer Geschichten, Herr Jež, vielleicht existiert, (tatsächlich ein Mit-Patient ist) oder ob es sich um ein rein schreibtherapeutisches Projekt handelt… Im Endeffekt ist das aber für die literarische Qualität gar nicht wichtig, bzw. hier ist gerade das Verschwimmen und Auflösen der einzelnen Ebenen ein echter Lesegenuss.

“Weggehen für Anfänger” ist ein zweisprachiger Gedichteband der herausragenden slowenischen Lyrikerin Cvetka Lipuš, die Übersetzung besorgte Klaus Detlef Olof. Die Gedichte sind in meinen Augen teilweise verspielt, teilweise tief melancholisch, sprachlich sehr klar und von grosser bildlicher Kraft. Manche ihrer Sätze leuchten mir regelrecht entgegen: “Wenn du allein reist, //spinnst du ellenweise Schweigen,// verlierst aber den Faden,// wenn dich jemand anspricht.”

In das dreibändige Werk “Rilke en face” schaue ich immer wieder. Es ist eine grossartige “Biographie ohne Biograph” – die Herausgeber Erich Unglaub und Curdin Ebneter haben in jahrzehntelanger Arbeit alle schriftlichen Quellen zu Rainer Maria Rilke zusammengetragen – wer sich über den Dichter geäussert hat, ist aller Wahrscheinlichkeit nach in diesem Band vertreten, von der Haushälterin über den Schulkameraden hin zu Dichterkollegen, Zuschauerinnen bei Lesungen etc. So entsteht beim Lesen ein sehr heterogenes Bild von einem Autor, über den man viel Oberflächliches weiss. Erschienen ist der Band bei “Nimbus. Kunst und Bücher”, dem feinen Verlag in Wädenswil am Zürichsee, in dem ich selbst lange Jahre mitarbeiten durfte

In diesem Jahr ist Slowenien das Gastland der Frankfurter Buchmesse. Die Literaturtage Zofingen begrüssen als einziger Veranstalter in der Schweiz die Autorinnen und Autoren des Gastlands, darum bin ich als Programmleiterin des Festivals in diesen Tagen schon fleissig dabei, slowenische Literatur zu lesen … ich liebe es, für Zofingen literarisches Neuland zu erkunden…

Es ist wie fast immer bei den Büchern von Peter Stamm – es braucht nur wenige Seiten und ich bin ganz sanft sehr tief ins Lesen hineingeglitten. Es geht um einen Autor, von zwei Dokumentarfilmern begleitet wird – und es gibt einen aktuellen Dokumentarfilm über Peter Stamm, in dem die Filmenden irgendwann realisieren, dass Stamm einen Roman über einen Autor schreibt, der von zwei Dokumentarfilmern begleitet wird … In der aktuellen Ausgabe des SRF Literaturclubs wurde das Buch schon besprochen – ich möchte es unbedingt fertiglesen, bevor ich mir die Sendung in der Mediathek anschaue – und auch, bevor ich den Dokumentarfilm anschaue.

Andere Bücherwürmer kennen das Phänomen sicherlich: Die meisten Menschen trauen sich nicht, Vielleserinnen Bücher zu schenken, aus Angst, dass man das “eh schon kennt”. Ich freue mich sehr, dass es “Die Chamäleon Dame” unter den Weihnachtsbaum geschafft hat, Yvonne Herganes Debut gefällt mir nämlich ausserordentlich gut, und ich hatte zuvor noch nie von der Autorin gehört!

Januar 2023

Tiziana Locatis wunderbaren Text “Weit werd ich ziehn” kannte ich schon in der Manuskriptfassung. Damals konnte ich ihr die “Edition 8” empfehlen, es freut mich riesig, dass es geklappt hat und nun das gedruckte Buch vorliegt!

Caroline Wahls Debut “22 Bahnen” schafft es, allerlei tragische Figuren, die ein heftiges Päckchen zu tragen haben, in eine Handlung einzubauen, die die Leserin beglückt. Und die Bonmots der kleinen Schwester Ida sind teils zum Schreien komisch. Fazit: Macht Spass!

Bald geht es wieder los mit Veranstaltungen, die ich moderieren darf. Schon lange hatte ich mir vorgenommen, Teuwsens Buch über „Das gute Gespräch“ zu lesen – darin geht es zwar um Interviews für Printmedien, aber ein moderiertes Bühnengespräch ist ja auch eine Art Interview. Es macht Spass, in die Materie einzutauchen!

Bernardine Evaristos Roman “Mädchen Frau etc.” hat mich im vergangenen Jahr wirklich umgehauen – eines der besten Bücher seit langem! Dem entsprechend aufgeregt war ich, als “Mr. Loverman” auf meinem Schreibtisch landete – wird es genau so gut oder eine Enttäuschung sein? Da der Roman erst im Febraur erscheint hier nur so viel: “Mr. Loverman” ist ein grossartiges Buch, was mir viel Freude beim Lesen bereitet und auch mit einigen Vorturteilen aufgeräumt hat – aber die Wucht, mit der mich “Mädchen, Frau etc.” erwischt hat, ist nicht ganz dieselbe.

Thommie Bayers Romane lese ich wahnsinnig gerne, sie sind immer unterhaltsam und bleiben doch hängen. “Das Glück meiner Mutter” hat mir Ursula Zangger, eine meiner Lieblings-Buchhändlerinnen empfohlen – sie lag wie immer richtig. Wer das triste Januarwetter hinter sich lassen will, ist hier genau richtig!

Mein Jahr beginnt mit Ewald Arenz neuem Roman “Die Liebe an miesen Tagen” – denn mit ihm werde ich meine erste Veranstaltung nach der Babypause bestreiten! Ich freue mich riesig auf den Abend bei Orell Füssli im Bellevue – Ewald Arenz ist ein charmanter Autor, mit dem es wunderbar ist, auf der Bühne zu parlieren!